Warum wir immer aktiv Kontakt halten sollten

Aus einer sehr persönlichen Geschichte, habe ich eine wichtige Idee fürs Netzwerken mitgenommen. Der Sohn einer guten Freundin ist schüchtern. Er ist sehr schüchtern. Er ist so schüchtern, dass aktuell untersucht wird, ob er nicht eine leichte Variante von Autismus hat. Wenn man ihm im Lokal sagt, er möge den Kellner um die Rechnung bitten, steht ihm der Schweiß auf der Stirn. So schüchtern ist er.

Seit neuestem wird er von seiner Klasse auf keine Parties mehr eingeladen. Seine Mutter wollte dem auf den Grund gehen. Sie traf sich eher zufällig mit zwei anderen Müttern, die Kinder in der Klasse des Sohns hatten. Auf die Frage angesprochen, drucksten die beiden herum, wollten nicht mit dem Thema herausrücken, bis eine sagte “Dein Sohn ist einfach sehr arrogant und herablassend”. Meine Bekannte war noch immer fassungslos, als sie mir das erzählte - ich kenne den jungen Mann, der ist so ziemlich alles nur nicht das.

Phänomen 1: Wir alle nehmen uns viel zu wichtig

Naturgemäß wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Dem Motto folgend: “Unser Hirn ist ein Formel 1 Motor und der braucht auch mal ein Service”, ging sie zu einer Psychologin, um um Rat zu fragen. Die erklärte etwas ganz simples: Jeder ist der Fixstern in seinem Universum. Jeder nimmt sich als das Maß der Dinge, sieht sich als “normal” und misst andere an sich. Jeder nimmt die Handlungen der anderen als Handlungen an sich wahr! Das ist gut erforscht bei Scheidungskindern. Kinder, deren Eltern sich scheiden ließen, als sie zwischen 3 und 9 waren, meinen fast immer, dass die Eltern sich wegen ihnen scheiden haben lassen. Warum denn sonst? In dem Alter ist es sehr schwer zu verstehen, dass jeder Mensch ganz eigene Motivationen hat. Sie sehen alles auf sich bezogen. Das reduziert sich im Lauf der Zeit, aber nur in überschaubarem Maß. Wir glauben weiterhin, dass die Handlung der anderen etwas über mich aussagen würde.

Phänomen 2: Du kannst nicht nicht kommunizieren

Dieses Postulat von Watzlawick ist mächtiger als viele glauben. Was immer Du machst oder unterlässt, Du setzt damit einen Kommunikationsakt. Du rufst jemanden an - oder nicht. Das verändert die Beziehung, gestaltet Eurer beider Realität. Das mag abgehoben klingen, schauen wir uns an, was bei dem jungen Mann passierte: Er war an einem Samstag mit zwei Schulkollegen im Kino. War ein super Abend, dachte er. Am Montag in der Schulklasse meint einer der beiden “war toll, das Kino, nicht” und er antwortete vermutlich etwas wie “war ok”. Er ist schüchtern. Smalltalk macht ihm Stress, davor läuft er davon. Genau das macht er, wenn ich ihn sehe: “wie gehts?” - “Gut” und er geht. Manchmal braucht es eine Stunde, während der ich mit seiner Mutter Themen bespreche, bis er wieder kommt und sich öffnet.

In der Schulklasse ist dafür keine Zeit. Wie wird sich sein Schulfreund fühlen? Er geht auf den Kumpel zu und wird stehen gelassen. Was ist die Kommunikation?

Beziehungen sind nie statisch, sie unterliegen immer einer Veränderung. Sie werden intensiver oder schwächer, es entsteht Nähe oder Distanz.

Machen wir einen Sprung ins Chapter. Jemand gab Dir in der Vorwoche eine Empfehlung. Jetzt sprichst Du ihn darauf nicht an. In der Folgewoche auch nicht. Was kommunizierst Du? Es ist psychologisch derselbe Prozess. Du magst gar nichts aussagen wollen - aber der andere nimmt sich vielleicht auch zu wichtig, er kann daher das Gefühl bekommen, dass eine Kommunikation stattgefunden hat.

Phänomen 3: Kein Mensch setzt sich ins Unrecht

Diesen Satz sagte Thomas Meisner, ED in Berlin, bei einem Vortrag. Wir Menschen setzen uns nicht ins Unrecht, weil das macht uns Stress. Unser Unterbewusstes mag keinen Stress. Jetzt gibt es zwei Typen im Extrem: die hoch Reflektierten und die Unsicheren. Die hoch Reflektierten haben irgendwann entdeckt, dass sich nicht alles um sie dreht, dass was der andere macht oder sagt, oft mehr über diesen Menschen aussagt als über das Thema selbst*. Die hoch Reflektierten kann man aktiv kritisieren und sie werden das als Feedback über Deine Wahrnehmung ihnen gegenüber nehmen, nicht mehr.

Anders ist es bei den Unsicheren. Die nehmen Aussagen rasch als Wertung über sich. Das macht Stress, das mag das Unterbewusste nicht, das lehnt es ab und sucht einen Schuldigen. Der ist rasch gefunden: der andere. Der andere ist arrogant, weil er nicht mit mir redet, der andere ist herablassend, weil er sich ja offenbar für etwas besseres hält, der andere ist doof. Es entsteht mehr Distanz, die Beziehung wird zuerst schwächer bis sie ins Gegenteil wechselt und zu Abneigung wird. Wie kann der andere mich so behandeln? Ich habe ihm nichts getan! Je mehr Emotion im Spiel ist, desto schneller und heftiger fällt diese Dynamik aus. Deswegen purzeln Liebespaare nicht in die Gleichgültigkeit, wenn die Beziehung scheitert, oft geht es direkt von einer Leidenschaft in eine ganz andere Leidenschaft.

Was heißt das jetzt für uns?

Die Erkenntnis, dass die anderen sich für zu wichtig nehmen, jede Form der Kommunikation eine Wertung mit sich bringen kann und die anderen im Zweifelsfall die Fehler in vorrangig ihrer Umgebung suchen, gibt uns eine klare Handlungsanweisung: häufige Kontaktpflege, aktives auf einander Zugehen, im Zweifelsfall einmal öfter zum Telefon greifen als ein eMail zu schicken - denn ein Telefonat kann Emotionen transportieren, ein eMail dagegen schafft das kaum. Besprich eine Empfehlung lieber einmal mehr, nimm lieber einmal öfter an einer Teamsitzung teil, wenn es darum geht, ein Boost-Meeting zu planen. Inhaltlich mag das nicht immer weltbewegend sein, auf der Beziehungsebene kann es Welten bewegen. Deswegen sind übrigens die Expertenteams auch so eine gute Sache: sie bieten uns nach dem 1-2-1 eine weitere Gelegenheit, Beziehungen zu pflegen.

Das alles gilt im normalen Chapteralltag, das gilt noch viel mehr wenn es anspruchsvoll wird, wenn Konflikte am Horizont lauern. Die Meisten suchen dann Distanz, die Stärksten dagegen suchen Nähe.

Das wurde ein langer Text, doch mir ging diese Erfahrung sehr nahe, weil ich selbst ein Zahlen-Daten-Fakten-Typ bin, einer der nicht automatisch auf andere zugeht, der dann aber immer wieder begeistert ist, von dem Echo, welches zurück kommt. Netzwerken hat viel mit Psychologie zu tun, damit die anderen zu verstehen. Mir wurde durch diese Erfahrung wieder viel klar.

*Anmerkung nach Feedback zum Artikel: Die Idee, dass WIE Menschen mit einem Thema, vor allem einem Konflikt umgehen, viel über deren psychologische Strategien aussagt, bedeutet auch, dass es oft klug ist, Abstand von “Dramaqueens” zu halten. Denn wer Konflikte immer übertrieben stark in ein “gut/böse”, “wahr/unwahr” unterteilt und versucht, Menschen auf “seine Seite” zu ziehen, zeigt eine sehr fragwürdige psychologische Strategie, um mit Herausforderungen umzugehen. Es empfiehlt sich, Menschen zu suchen, die einen nachsichtigen, großmütigen Umgang pflegen, weil egal mit wem wir zusammen arbeiten, Konflikt ist vorprogrammiert.